Prof. Dr. phil. habil. Horst Langer

V. ADDENDA

1. Horst Langer: Über Sibylla Schwarz (1621-1638)
2. Sibylla Schwarz, Das schnöde Tun der Welt

Vorbemerkung zu Hans-Jürgen Schumacher: ... die Lieb' ist mein Beginn. Sibylla Schwarz - Eine Dichterin in Pommern. Romanbiographie. Mesekenhagen 2007.

Im Spätsommer 1634 wird Sibylla Schwarz eingeladen, bei einer Festlichkeit zu Ehren des Greifswalder Ratsherrn Johann Glewig aus ihren Gedichten zu lesen. In der Stadt hatte sich herumgesprochen, dass die Tochter des Bürgermeisters, sie ist gerade dreizehn, in ihren "Nebenstunden" Poesie verfasste - mehr als ungewöhnlich in einer Zeit, deren männlich dominierte Gesellschaft sich einig war in dem Urteil: Lieber ein bärtiges als ein gelehrtes Frauenzimmer! Noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts sah sich der Dichter und Poetiklehrer Daniel Georg Morhof aus Wismar zu der Feststellung veranlasst: "Es ist gar ein unbilliges Urteil des vornehmen arabischen Poeten Pharezdaki, welcher gesagt, wenn die Henne wie der Hahn singet / muss man ihr den Hals abschneiden." Dass Sibylla dennoch die Einladung in das Haus des Ratsherrn erreichte, war zwei Gründen geschuldet: Zum einen verlieh die Anwesenheit der Dichterin aus patrizischer Familie dem Fest zusätzlichen Glanz, zum anderen konnte die Lesung den Gästen willkommene Gaudi bringen.
Als Sibylla endlich an der Reihe ist, sind viele Zuhörer bereits alkoholisiert. Mit glühenden Wangen trägt die Poetin ihre kunstvoll geformten gedankenschweren Verse vor. Als sie endet, herrscht betretenes Schweigen. Zunächst hinter vorgehaltener Hand, sodann ganz unverblümt brechen Unverständnis und Distanz hervor. "Weiber sollten sich erst gar nicht mit diesen Dingen befassen!", ruft einer der Gäste aus, und ein anderer bekräftigt: "Weiber, die womöglich studieren wollen, kann niemand wirklich mögen." Auch Sibyllas geistlicher Beistand Christoph Hagen zeigt kaum Verständnis für seinen Schützling, entgegnet dem Mädchen mit Blick auf die Männersache Dichtkunst: "Gewisse Dinge sollten für alle Zeiten bleiben, wie sie sind."

So wie in Hans-Jürgen Schumachers Romanbiographie vor Augen geführt, kann es gewesen sein. Wiederholt finden sich in Sibyllas Texten Anhaltspunkte für eine entsprechende Lesart. Freilich ist damit nur eine, wenn auch eine gewichtige Schwierigkeit ihrer Schreib- und Lebenssituation bezeichnet. Eine weitere Hürde ergab sich für die jugendliche Autodidaktin aus dem komplizierten Literaturverständnis ihrer Gegenwart.
Anders als zu anderen Zeiten, folgte die Dichtkunst im 17. Jahrhundert strengen Regeln. Deren Verfasser, allen voran der berühmte schlesische Autor und Poetik-Lehrer Martin Opitz, orientierten sich an der kunstbewussten lateinischen Literatur des europäischen Humanismus. In der Absicht, qualitative Ebenbürtigkeit mit dieser zu erlangen, übertrugen sie deren Normen auf den muttersprachlichen Meridian. Entsprechend wurden für die Gattungen und Genres Strukturen bestimmt, denen buchstabengetreu folgen musste, wer in den Musenberg aufsteigen wollte.

Sibylla mag zehn, elf Jahre gewesen sein, als sie Opitz' wegweisendes Buch von der Deutschen Poeterey erstmals in Händen hielt. In ihm werden Wesen und Eigenschaften der Poesie "gründlich erzählet und mit Exempeln ausgeführet". Aus ihren Notizen wissen wir, dass die Greifswalderin den Band wie im Rausch verschlungen und sogleich versucht hat, eigene Gedanken über Gott und die Welt in die Gestalt der vorgeschriebenen Formen zu bringen - etwa in die des hoch gepriesenen Alexandriners, den Opitz so charakterisierte: "Der weibliche Vers hat dreizehn, der männliche zwölf Silben [...] Es muss aber allezeit die sechste Silbe eine Zäsur oder (einen) Abschnitt haben, das ist: entweder ein einsilbig Wort sein oder den Akzent in der letzten Silbe haben." Keine leichte Aufgabe für eine Zehn-, Elfjährige, die sie wieder und wieder bravourös meisterte.
Die wenige Zeit, die Sibylla für ihre literarischen Exerzitien blieb, lag vor allem in den Abend- und Nachtstunden - nach Erledigung vielfältiger häuslicher Pflichten. In einem Brief weist sie darauf hin, "dass die Poesey eine Verursacherin vieles Guten bei mir gewesen/ und ich sie derohalben [...] füglich also beibehalten kann/ dass dadurch andere Geschäfte nicht hintan gesetzt" würden. Zudem gab es, von gelegentlichen Gesprächen mit ihrem Lehrer Samuel Gerlach sowie Bruder Christian abgesehen, kaum eine Möglichkeit zum gedanklichen Austausch mit Gleichgesinnten. Immerhin lag Greifswald trotz seiner Universität eher am Rande der zeitgenössischen res publica litteraria. Wie sich zeigen sollte, hatte Sibylla keinen geringen Anteil daran, den Namen ihrer Heimatstadt in der gebildeten Welt zu verbreiten - allen entgegenstehenden Voraussetzungen zum Trotz: dem kindlichen Alter der Dichterin, ihrem benachteiligten Geschlecht, dem Druck familiärer Aufgaben sowie dem Fehlen bestätigender Resonanz.
In der Summe der Widerstände fast unüberwindliche Barrieren für die Heranwachsende, zumal angesichts ihrer fragilen Gesundheit. Dennoch erscheinen die umrissenen Probleme eher geringfügig - gemessen an Herausforderungen, denen sich Sibylla gegenüber sieht, als der dreißigjährige Krieg Greifswald und seine Umgebung erreicht. Nächst dem frühen Tod der Mutter fügen ihr die Orgien von Gewalt und Zerstörung, die vor ihren Augen stattfinden, unheilbare Wunden zu - nicht zuletzt die Vernichtung ihres "Freudenorts" Fretow (Frätow), eines ländlich-idyllischen Refugiums der Familie Schwarz vor den Toren der Stadt. In einer zuversichtlicheren Stunde notierte sie: "Ist schon die ganze Welt im Blute durchgenetzet/ So bleibt doch etwas noch/ damit man sich ergötzet [...] Da auch der Musen Sinn/ und Geist die Flügel kriegt/ Das Feld/ da Freundschaft blüht/ die Kummerwenderin." Diesen wirklichen wie literarischen Ort hatte Sibylla wieder und wieder als Stätte der Begegnung und fröhlicher Ausgelassenheit erfahren, "die der Städte Volk nur gänzlich meiden muss", als einen Ort, aus dem sich Unaufrichtigkeit, Neid und Missgunst strikt verbannt sahen. Im Angesicht seines Untergangs vergegenwärtigt die Dichterin sich sowie den "Freunden und Mitgenießer(n)" in erschütternden Bildern ihren Fall aus dem Reich der Glückseligen ins Bodenlose der trist-brutalen Kriegswirklichkeit. Zwar ruft sie mit einem trotzigen Dennoch aus: "Mein Fretow, sei getrost! Dein Lob soll ewig stehn..." Doch es handelte sich um das Auflodern eines Feuers, das schnell verlöschen sollte. Die Kraftreserven der Dichterin hatten sich erschöpft.

Ungeachtet ihres leidvollen Erlebens finden sich in Sibyllas Texten nicht nur Klagelieder und Trauergesänge, sondern ebenso ausgelassen-heitere, ja verwegene Gelegenheitsgedichte. Ein Band mit ihren Arbeiten erschien erst zwölf Jahre nach dem Tod der Dichterin - 1650 im fernen Danzig

In Schumachers Buch klopft Martin Opitz kurze Zeit, nachdem die knapp Siebzehnjährige gestorben war, ahnungslos an die Tür des Schwarz'schen Hauses und wünscht die junge Poetin zu sprechen. Eine Erfindung des Autors, in Wirklichkeit ist es nicht dazu gekommen. Aus mindestens zwei Gründen ein legitimes literarisches Verfahren: Zum einen gilt nach wie vor Opitz' Feststellung, dass "die ganze Poeterey [...] die Dinge nicht so sehr beschreibe, wie sie sein, als wie sie etwan sein könnten oder sollten." Zum anderen hatte der Schlesier in der Tat geplant, Sibylla während einer seiner Reisen nach Westeuropa in Greifswald zu besuchen. Jahrzehnte später erinnerte Daniel Georg Morhof, Verfasser der ersten kritischen Literaturgeschichte in Deutschland, in ehrendem Gedenken an die unvergessene Dichterin: "Sibylla Schwarz [...] war ein Wunder ihrer Zeit/ denn sie hat von dem dreizehnten Jahre ihres Alters [...] Verse geschrieben/ die vor solche zarte Jugend [...] unvergleichlich sind."
Am Ende der Romanbiographie drückt Opitz seine Hoffnung aus, die Greifswalder wüssten um "den unschätzbaren Verlust, den die Poesie in Pommern mit dem Tod Sibyllas erlitten hat." Trügt nicht aller Anschein, könnte sich diese Hoffnung allmählich erfüllen.

Greifswald, August 2007

(Gekürzte Fassung bei der Buchpremiere am 31. August im Greifswalder Dom vorgetragen.)

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