Prof. Dr. phil. habil. Horst Langer

IV. Aus den literarischen Texten

5. DENKWÜRDIGE GESCHICHTEN

Am 9. Juli 1545 nahm mich Christoph von Löwenstein, der Vorsteher des Ordens Sankt Johannis für Ober- und Niederdeutschland, als Schreiber bei sich auf. Er versprach mir keine feste Besoldung, aber ein Kleid und Stiefel, und er wollte meine Arbeit so bezahlen, dass ich damit zufrieden wäre.
Für jeden Verwaltungsbezirk eines Ritterordens war festgelegt, wieviel er jährlich an den Johanniterorden, der in Malta residiert, abzuführen hatte. Dieses Jahrgeld zieht der Vorsteher ein. Außerdem besetzt er beim Tod eines Verwaltungsleiters die frei gewordene Stelle und zieht die Hinterlassenschaft des Verstorbenen ein, um sie an den Orden zu schicken; auch führt er neu berufene Verwaltunsgleiter in ihr Amt ein. Das sind die wichtigsten Aufgaben des Vorstehers, der natürlich hohes Ansehen genießt.
Die meiste Zeit im Jahr hielt sich mein neuer Dienstherr in Niederweisel auf, wo er stattliche Gebäude besaß und alles hatte, was zum Unterhalt nötig war, Scheunen, Vieh- und Pferdeställe, ein Brau- sowie ein Backhaus, Küche, Konventstuben sowie Schlafkammern fürs Gesinde, alles ordentlich gebaut. Er selbst bewohnte an einem Ende des Hofes, von dem aus er einen guten Überblick hatte, eine schöne Stube sowie eine Kammer.
Mit dem Antritt der Stelle hatte sich meine Lebenssituation grundlegend verändert. Von allem, woran es mir in Worms gemangelt hatte, besaß ich hier genug. Ich war so recht ins Schlaraffenland gekommen, aber auch in den Venusberg, wie ich bald bemerken sollte.
Mein Herr ist in seiner Jugend ein großer Kriegsherr gewesen, und er war es sein Leben lang geblieben, aber er schätzte auch Geselligkeit wie tägliches Bankettieren, gutes Essen und tüchtiges Saufen. Da sein Anwesen an der Landstraße lag, hatten Reiter und Landsknechte bei ihm freies Nachtlager. Natürlich versäumte man nicht, das auszunutzen, auch die Nachbarn zeigten sich von der Großzügigkeit des Herrn sehr angetan; so soffen, spielten und lebten sie in Saus und Braus miteinander.
Stets hatte der Ordensvorsteher eine schöne Beischläferin an seiner Seite, die Tag und Nacht für ihn da sein musste. Seinem Stand entsprechend kleidete er sie herrschaftlich und verwöhnte sie mit feinem Schmuck. Hatten sie lange genug zusammen gelebt und begehrte er eine Jüngere, so verheiratete er sie mit einem seiner reitenden Diener, verschaffte dem Paar in Butzbach eine eigene Wohnung und versorgte die beiden mit allem Notwendigen. Da Butzbach nicht weit erntfernt war, konnte er sie auch weiterhin besuchen, so oft er wollte.
Als ich in seine Dienste trat, war Maria Königstein die Geliebte meines neuen Herrrn, die Tochter des Mainzer Stadtschreibers. Der Vorsteher hatte sie bereits als sein Patenkind aus der Taufe gehoben, und von ihrem Vater war ihm auch die Vormundschaft für sie übertragen worden. Sie war ein schönes, wohl erzogenes Menschenkind, freundlich und von höflichen Sitten; schade, dass sie keinen Würdigeren zum Vormund bekommen hatte. Als sie etwa achtzehn Jahre alt war, fuhr der Herr in einem geschlossenen Wagen nach Mainz, ließ das Mägdelein zu sich holen und verlangte, dass sie mit ihm eine halbe Meile weit aus der Stadt hinausführe. Sie setzten sich in den Wagen, ließen sich über den Rhein setzen, worauf die Kutsche eilends über Frankfurt nach Niederweisel fuhr. Dort wurde sie über sechs oder acht Monate so heimlich verborgen, das weder ihr Bruder noch ihre Freunde erfuhren, wo sie geblieben war. In der Folgezeit erwies der Herr ihrem Bruder viel Gutes, entsandte ihn zum obersten Meister der Johanniter und begünstigte ihn auf diese Weise. Seine Schwester Maria versorgte er anständig mit seidenen Kleidern, goldenen Hauben und Ringen sowie mit Marderpelz gefütterten Jacken usw.
Mir war der Herr gewogen. Er verlangte von den Bauern seiner sieben Verwaltungsgebiete, dass sie auf ihre Höfe eine Hypothek aufnahmen und davon jeweils einen Taler an mich entrichteten. Auch wurde ich ebenso gut gekleidet wie seine reisigen Knechte und von Frau Maria mit der nötigen sauberen Wäsche versorgt. Ferner erhielt ich eine saubere Schlafkammer, in der ich nicht nur mein Bett hatte, sondern auch meine Schreiberei betreiben konnte. Alle Mahlzeiten nahm ich am Tisch des Herrn ein, an dem außer diesem die Gäste, Frau Maria, der Pfaffe und die drei reitenden Diener saßen. Schon bald hatte ich wieder ein silbernes Gehänge an meinem Schwert und ein goldenes Ringlein am kleinen Finger; unter den veränderten Bedingungen hatte sich meine Hässlichkeit, die durch die Wormser Entbehrungen verursacht worden war, schnell zurückgebildet, und ich fand mich bald allenthalben wohl gelitten.
Um die Zeit der Herbstmesse zog mein Herr mit seiner ganzen Haushaltung nach Frankfurt und hielt sich da sechs Wochen auf. Dort traf ich Franz von Stiten, mit dem ich in Rostock studiert und zwei Jahre in einer gemeinsamen Stube gewohnt hatte. Ich berichtete ihm von meinen jetzigen Lebensumständen und zeigte ihm das Johanniterhaus. Als er mich eines Morgens besuchen wollte, geriet er in ein langes Gespräch mit Maria und erzählte ihr, dass ich aus guter Familie stammte, sowie auch sonst noch manches über mich und meine Familie. Daraufhin begegnete mir Maria immer freundlicher, und ich muss offen bekennen, dass ich in bezug auf sie kein Recht habe, mich der Keuschheit Josephs zu rühmen. Ich habe es aber meinem Gott gebeichtet und auf der römischen Reise reichlich gebüßt; deshalb zweifle ich nicht daran, dass Gott mir verziehen hat. Denn obwohl ich während der Reise in allerlei Not, Gefahr und Beschwernisse geriet, hat er mir seine Gnade und Barmherzigkeit nicht entzogen, sondern mich vielfältig wunderbar gerettet und beschützt.

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