IV. Aus den literarischen Texten
4. CHRONIQUE BRUTALE (2007)
1. Januar 1999
Nach ausgelassener Silvesterfeier im Freundeskreis Anstoßen auf
das kommende Jahr. Alles scheint wie immer - abgesehen davon, dass in
zwölf Monaten ein neues Säkulum beginnt, zugleich das dritte
Jahrtausend. Für die Geschäftswelt zeichnen sich beste Aussichten
ab. Für den kleinen Mann und die kleine Frau eher nicht.
Im August eine totale Sonnenfinsternis. Hoffentlich kein böses Omen.
(...)
14. Januar
Mit H., dem langjährigen Kollegen, bei einer Tasse Kaffee eine politische
tour d'horizon durch Vergangenheit und Gegenwart. Gemeinsame Skepsis über
den Lauf der Dinge. Die Gesprächspartner vermissen Vernunft und Augenmaß
bei der Lösung dringendster Probleme. In der Großen wie in
der Kleinen Welt: statt Partnerschaft borniertes herrschaftliches Machtgebaren,
das auf Unterwerfung des Schwächeren zielt. Fatale Ignoranz gegenüber
geschichtlichen Erfahrungen. Von allem anderen abgesehen.
Die Kaffeetrinker erinnern sich an Einsteins Worte: Zwei Dinge sind unendlich
- das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir
noch nicht sicher. (...)
10. Februar
In der Heimatstadt des Tagebuchschreibers ein Gedenkstein mit dieser Inschrift:
Ihren in den Weltkriegen gefallenen Kommilitonen - die Greifswalder Studentenschaft.
Wie bekannt, sind nicht wenige der später Getöteten mit Gesang
und klingendem Spiel in fremde Länder eingefallen. Warum, in wessen
Auftrag und mit welchem Ziel waren sie auf die fernen Schlachtfelder beider
Kriege geeilt, was hatten sie auf ihnen zu suchen? Etwa eine unziemliche
Frage?
Vor drei Dezennien protestierten auch deutsche Studenten leidenschaftlich
gegen den Krieg der US-Amerikaner in Vietnam, heute setzen sie ihren gefallenen
Kommilitonen ein Denkmal. Wie werden sie reagieren, sollte sich Deutschland
an einem Krieg gegen Jugoslawien beteiligen?
In zehn Tagen zusammen mit B. für eine Woche in den Harz. Die neueste
Wetter-Prognose verheißungsvoll. (...)
21. Februar
Aus der Ferienwohnung ein Blick auf den nahegelegenen Berghang. Linkerhand
der Brocken, nicht nur durch hoch aufragende Tannen verdeckt - Stunde
um Stunde dichter Schneefall. Ringsum märchenhafte Stille.
Die Nachrichten melden verheerende Lawinenunglücke in den Schweizer
und österreichischen Alpen. Zahlreiche Tote und Verletzte. Im Fernsehen
Bilder der Zerstörung.
22. Februar
In Schierke strahlender Sonnenschein. Der Schnee unberührt, Myriaden
glitzernder Kristalle. Auf dem heutigen Programm eine Fahrt hoch zum Brocken
- bei diesem Wetter muss die Sicht grandios sein.
Das Schniefen der Lokomotive, der grässliche schwarze Rauch aus ihrem
Schornstein. Die Tannen tief verschneit, Schwerstarbeit für die geplagten
Bäume. Gelegentlich ein Skiläufer. Mit dem Aufstieg wird die
Sicht schlechter und schlechter. Oben angekommen beißende Kälte,
peitschender Schneesturm, fast kein Vorankommen. Wohin auch, etwa zu dem
Hotelklotz, der im kommenden Sommer fertiggestellt sein soll? Überall
schweres Gerät, provisorische Unterkünfte, Schuppen, Baustoffe.
Alles ist unwirtlich, dabei liegt das Plateau nur wenig mehr als tausend
Meter über dem Meeresspiegel.
Aus den Lawinengebieten Nachrichten über furchtbare Verwüstungen.
Erste Fragen nach den Ursachen des Unglücks sowie nach möglichen
Verantwortlichen .
23. Februar
Fahrt in den Ostharz. Von Thale aus mit der Gondel zum Hexentanzplatz.
Flüchtige Erinnerung an einen Schulausflug. Die Favoritin des Jungen
hatte dicke blonde Zöpfe, ihre Wangen glühten, die Augen blitzten...
Äonen ist's her.
Treseburg. Vor mehr als dreißig Jahren die prophylaktische Kur des
genervten jungen Lehrers in den malerischen kleinen Ort am Einfluss der
Luppbode in die Bode. Dann und wann in aufgeräumter Runde eine deftige
Holzfällerplatte, bestehend aus Schmalzschnitten mit Wurst und Harzer
Käse, Tomaten und Gurke. In der Mitte der Platte eine Auslassung,
in ihr ein Doppelglas Korn. Noch heute läuft dem Schreiber das Wasser
im Mund zusammen.
Auf der Rücktour Kaffeetrinken in Elend. Nomen est Omen? Sieht man
sich um, scheint es so. Von einer blühenden Landschaft jedenfalls
keine Spur - nicht allein der Schneedecke wegen, die im übrigen manchen,
aber längst nicht jeden Makel gnädig verdeckt.
Die englische Dramatikerin Sarah Kane hat sich das Leben genommen. Den
Vorwurf, sie habe in ihren Stücken Gewalt bühnenfähig gemacht,
wies Kane zurück: "Nicht meine Stücke sind brutal, sondern
sie handeln von Brutalität. Und von der Hoffnung auf Liebe."
Für die mutige Frau offenbar eine vergebliche Hoffnung. Auch die
bevorstehende Jahrtausendwende vermittelte ihr keine Zuversicht.
Hollywood-Star Bruce Willis am Rande der Berliner Filmfestspiele: "Wir
leben in einer sehr brutalen Welt."
24. Februar
Unter kleinen Leuten des lieblichen Urlaubsorts im Gespräch vorsichtig
geäußerter Verdruss und Schmerz, etwa über den verlorengegangenen
Arbeitsplatz im einstigen FDGB-Urlauberhotel Hermann Duncker. Noch heute
steht es so in großen, allmählich verblassenden Lettern an
der Stirnwand des riesigen Hauses. Im Wind knarren und schlagen unbefestigte
Fensterflügel auf und zu. Auf dem Dach und in Etagenfugen allerlei
Gestrüpp, kleine Bäume. Die Holzverkleidungen der Fassade mürbe,
die Farbe abgeblättert. Verfall, wohin das Auge blickt. In unmittelbarer
Nähe der Ruine schmucke Häuser jener, die es geschafft haben.
In den ausladenden Auffahrten teure Karossen.
Aus den Alpen erschütternde Nachrichten über weitere Lawinenopfer.
25. Februar
Das österreichische Galtür wird zum Synonym für die verheerendste
Schneekatastrophe des Winters. Urlauber können den Ort nicht verlassen.
Der Lehrer Volker S. über seine Erlebnisse in Ischgl: "Ich wollte
hier mit Freunden ein paar Tage Ski fahren. Und jetzt kommen wir seit
vier Tagen nicht raus. Sonntag, Montag und Dienstag standen wir morgens
um sieben Uhr in der Eiseskälte mit unseren Sachen am Landeplatz
für die Helikopter. Dort war das totale Chaos. Die Gäste aus
dem 5-Sterne-Hotel Trofana Royal' wurden mit dem Bus vorgefahren
und ausgeflogen, und wir Pensionsgäste konnten zugucken. Ein Hotelangestellter
markierte den dicken Maxen, erklärte: Sie brauchen erst gar
nicht anzustehen, wir haben die Flüge gebucht.' Man kommt sich hier
vor wie auf der Titanic: Es gibt Oberdeck, Unterdeck - und die Kohleschipper!'"
Mit Verlaub: Was hattet ihr denn gedacht?
Aus der Titelei des Bandes:
Vor dem politischen, sozialen und kulturellen Hintergrund heutiger Entwicklungen
geben die Aufzeichnungen kurzweilig, wiederholt auch humorvoll oder in
ironischer Brechung Auskünfte über das letzte Jahr des vergangenen
Säkulums. In ihrem Zentrum stehen bedeutende, nicht selten weltbewegende,
hier und da auch weniger gewichtige und gelegentlich kuriose Ereignisse
aus der Großen und der Kleinen Welt. Ein besonderer Reiz des Buches
ergibt sich daraus, dass es Einsichten über aktuelle Vorgänge
befördert, indem es zu ihren Wurzeln vordringt. So entstehen im unverklärten
Blick auf seinen Ausgang vielgestaltige Bilder und Eindrücke eines
Zeitalters, das in ebenso faszinierender wie beängstigender Weise
Zeugnis ablegt von der Zwiespältigkeit geschichtlichen Fortschreitens.
Aus der Vorbemerkung:
Die Aufzeichnungen reflektieren Ereignisse und Entwicklungen am Ausgang
des letzten Jahrhunderts, teils in persönlicher Brechung, teils als
sachlicher Report. Obwohl früher entstanden, zeigen sie sich dem
Motto verpflichtet, das der Internationale PEN-Kongress 2006 seiner Berliner
Tagung zugrundelegte: Schreiben in friedloser Welt.
Erlebnisse und Erfahrungen des Autors finden ihren Ausdruck, wenn es möglich
erscheint, an ihrem Beispiel Fragen von allgemeinerem Interesse aufzuwerfen.
Da er keine Nabelschau betrieben will, verzichtet der Chronist auf den
Gebrauch der ersten Person.
Nicht zuletzt kommt den Notizen eine bewahrende Aufgabe zu. Wie viele
bedenkenswerte Anmerkungen zu Tag und Stunde gehen in unserer schnelllebigen
Zeit verloren. Das Tagebuch ist in der Lage, sie festzuhalten und weiterzugeben
- kaum eine andere Gattung kann es in dieser Hinsicht mit ihm aufnehmen.
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