Prof. Dr. phil. habil. Horst Langer

IV. Aus den literarischen Texten

3. ANNAS MÄNNER (2004)

Auf dem Weg ins Institut rekapitulierte Anna ihre Vorbereitung auf das Seminar. Im weitesten Sinne hatte das Thema der Veranstaltung mit ihrem eigenen Erleben zu tun. Es ging um die Aufnahme des Amphitryon-Stoffes in der Geschichte der Literatur. Hatten sie in den zurückliegenden Monaten Gestaltungen von Plautus über Moliere, Dryden und Kleist bis zu Georg Kaiser, also aus der Zeit vor Christus bis um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts untersucht, stand diesmal die Adaption von Hacks auf dem Programm. Ein Stück, das Anna liebte, nicht nur wegen der sympathischen Sicht auf das Problem, sondern weil die Komödie so unterhaltsam wie gedankenreich war, Hirn und Bauch gleichermaßen ansprach.
 Anna verstand nicht, warum das Stück so selten gespielt wurde. Am liebsten riefe sie ihre Geschlechtsgenossinnen auf, gemeinsam mit ihr eine Aufführung zu ertrotzen, etwa durch ein Sit-in auf dem Theaterplatz. Würde die Komödie schließlich gespielt, sollten die Frauen ihre Männer an die Hand nehmen und sie ins Theater führen. Danach mit ihnen über das sprechen, was sie gesehen und gehört hatten, bei einem Glas Wein oder einem Bier, je nach Geschmack.
 Eine Illusion, wusste Anna, fast so schön wie jene, die in der Geschichte um den antiken Feldherrn Amphitryon, seine Frau Alkmene und Gott Jupiter präsentiert wird. Weil letzterer das schmucke, aber treue Weib verführen möchte, schlüpfte er in die Gestalt ihres Ehemanns. Obwohl sie erstaunt ist, wie liebevoll und zartfühlend sich der alte Haudegen, gerade von einer seiner Schlachten zurückgekehrt, diesmal gibt, gelingt es Jupiter, die Frau vorübergehend zu täuschen. War es ein Wunder, dachte Anna, dass Alkmene schnell Gefallen fand an diesem Kerl, der sie in die höchsten Gefilde von Liebe und Lust zu führen verstand, sie dabei nicht nur als Weib begriff, sondern als Mensch wahrnahm? Ganz anders als der wahre Amphitryon, der Stunden später vor ihr steht und die Begrüßung wie üblich mit einem Bericht über die gewonnene Schlacht beginnt, auch sonst alles sagt und tut wie immer.
 Schnell waren Alkmenes Zweifel geschwunden: Der, in dessen Armen sie die vergangene Nacht verbracht hatte, ist nicht ihr Ehemann gewesen, dachte sie. Doch die Entdeckung schockierte sie nicht, im Gegenteil weckte sie die Frage in ihr, ob sie sich fortan mit weniger bescheiden sollte als mit dem, was der flüchtige Geliebte ihr gegeben hatte.
 Welch ein Stoff! resümierte Anna ihre Überlegungen. Das Stück rasant, voller Situationskomik, aber ohne Klamauk, die Sprache ironisch pointiert und gestisch. Die Komik ergibt sich nicht aus Äußerlichkeiten, sondern aus der Substanz des Konflikts. Noch Kleists Alkmene plagen Schuldgefühle, als sie erkennt, unwissentlich die Ehe gebrochen zu haben. Die Umkehr bei Hacks stellte einen Quantensprung in der Geschichte der Stoffaufnahme dar. Genau wie der Verzicht auf die bis dahin übliche Schwängerung der göttlich Verführten. Um Lust und Liebe geht es in Hacks' Stück, ebenso freudig gewährt wie empfangen, um freies Menschsein, nicht um folgenreiche Verstrickungen. Was stattfindet, ist eine Komödie, die das Überholte durch Lachen überwinden will, zumal im Denken und Verhalten des männlichen Lesers oder Zuschauers.
 Anna war gespannt, wie die jungen Leute den Text aufnehmen würden. Ob sie bereit waren, sich den Fragen des Stücks unvoreingenommen zu stellen, sie auf ihre Erfahrungen zu beziehen. Wie sich zeigte, hatte sie ihre Hoffnung nicht getäuscht. Es kam zu einer lebhaften Diskussion, keine Selbstverständlichkeit in dieser schnellebigen Zeit. Immerhin hatte das Stück mehr als drei Jahrzehnte auf dem Buckel, war in jenem fernen Jahr entstanden, in dem Studenten lauthals den Weg auf die Straßen gesucht und gefunden hatten, nicht zuletzt mit dem Ziel, einer antiquierten Theorie und Praxis im Verhältnis der Geschlechter zueinander die eingestaubten Zöpfe abzuschneiden.
 Einer aus der Runde stellte lächelnd fest, das Stück sei zwar recht gut gebaut und hübsch geschrieben, doch die in ihm reflektierten Probleme hätten sich inzwischen erledigt. Verließen nicht immer öfter Frauen ihre Männer? Angeblich, um sich verwirklichen zu können, tatsächlich oft aus purem Egoismus. Dabei könnten sie sich nur so entscheiden, weil ihnen die Gesellschaft die nötige Sicherheit bot.
 Besseres als dieser Einwand konnte Anna kaum passieren. Wie sie auf die Barrikade gingen, nicht nur die jungen Frauen, sondern auch der eine oder andere männliche Seminarteilnehmer.
 "Sag mal, wo lebst du eigentlich?" fragte eine Rothaarige ihren Kommilitonen. "Kriegst du nicht mit oder willst du nicht sehen, dass sich keine einzige der Fragen, die das Stück aufwirft, erledigt hat? Ganz abgesehen davon, dass es endgültige Antworten sowieso nicht gibt. Für den, der genau hinsieht, ist die Situation der Frau heute nicht weniger problematisch als Ende der sechziger Jahre. Auch wenn es sich hier und da anders darstellen mag, zum Beispiel dann, wenn Frauen aus begüterten Familien kommen oder einen gutbezahlten Job haben - was aber fast immer mit Verlusten anderer Art einhergeht, wie wir wissen. Und wie hoch ist schon der Anteil solcher Frauen an der Gesamtzahl von uns Weibern? Entschuldige, aber entweder musst du persönliche Gründe haben oder schlicht und einfach spinnen", wandte sie sich an den Auslöser ihrer Polemik.
 Eine Blondine trat ihr zur Seite: "Zumal es ja nicht allein um uns Weiber geht, sondern auch und sogar vor allem um euch Kerle. Führt euch nur mal vor Augen, was dieser Feldherr seiner klugen Alkmene entgegnet, als diese bekennt, was sie an einem Mann liebenswert findet, nämlich sein Wesen - womit sie den Grad seines Menschseins meint, etwa Jupiters unerhörte Reden, die frei sind von dem, was die Reden ihres Ehemanns ausmacht, aber auch Jupiters gewisse Zärtlichkeiten. Darauf antwortet ihr dieser Mistkerl: Geld, Acker, Sklaven, Rang und Ansehn zählen zu eines Menschen Wesen. / Die in Händen, handelt er anders als ohne sie. Welch entlarvende Selbstdarstellung! Ein Wunder, dass Amphitryon in seine Aufzählung nicht ausdrücklich auch Frauen aufgenommen hat, womöglich rechnet er sie ja den Sklaven zu. Und ist Alkmene bis zu der Begegnung mit Jupiter nicht auch eine Art Sklavin - und wird sie es nicht wieder sein? Machen wir uns nichts vor, da war nur dieser eine wunderbare Moment der Freiheit und des Glücks. Wen wüsste sie denn künftig an ihrer Seite? Diesen Jupiter etwa, der sich längst aus dem Staub gemacht hat? Gewiss nicht! Sich aber allein gegen die vielgestaltigen Zwänge aufzulehnen, denen sie unterworfen ist... Ach Mensch, wenn ich das Gerede von der Erledigung dieser Fragen höre, könnte ich mir sonst wohin greifen." Vereinzelte Lacher quittierten ihre letzte Bemerkung.
 Streit entwickelte sich auch um die Bewertung der Titelfigur durch den Autor. Jener, der zu Beginn für so heftigen Protest gesorgt hatte, ging davon aus, Hacks denunziere die Figur, degradiere Amphitryon zum bloßen Bösewicht. Erneut erhob sich Widerspruch. Mehrere Disputanten verwiesen auf Textpartien, die nach ihrer Auffassung eine differenzierte Sicht auf den Feldherrn bekundeten.
 Die Verteidiger der Figur führten einen Dialog zwischen Amphitryon und Alkmene an, in dessen Verlauf der Feldherr die Fragen seiner Frau beantwortet. Alkmenes Hinweis, kein Weib schätze am Mann den äußern Glanz, sondern immer nur sein Wesen, weist ihr Mann mit der Erwiderung zurück: Zwar behaupteten die Frauen stets, sie wollten nur das eine, geliebt werden: Doch von einem Niemand? Ähnliche Gesichtspunkte eröffnete die Rede des betrogenen Feldherrn an Jupiter, Alkmene lebe so wenig in der Welt als Sie. Hingegen habe er, Amphitryon, sich mit der Realität herumzuschlagen, und diese biete nur wenig Raum für schöne Träume und gute Taten. Vielmehr sei die Welt von solchem Ernst, dass nur ein Gott vermag, ein Mensch zu sein. Ob das etwa mit dem Vorwurf vereinbar sei, der Autor habe die Figur denunziert?

Anna griff nur selten in die Diskussion ein. Wieder und wieder ließ sie ihre Gedanken abschweifen, erinnerte sich an Gespräche, die sie vor Jahren mit Rolf über das Stück geführt hatte. Er war in vielem anderer Meinung gewesen als sie, hatte ihr mit anzüglichem Grinsen wiederholt den Vorwurf des Feldherrn an seine liebe Frau unter die Nase gerieben, sie sei nicht von dieser Welt. Oder die Aussage des alten Haudegen, einen Niemand zu lieben, wäre den Frauen auch wieder nicht recht. Jahre später hatte er unter Hinweis auf Alkmene die Feststellung des Evolutionsbiologen Robin Baker zitiert: Untersuchungen zeigen durchgängig, dass Frauen bei der Suche nach einem langfristigen Partner Männer bevorzugen, die Reichtum, Status, Stabilität und Verlässlichkeit aufweisen oder versprechen.
 "Beweisen durchgängig, meine Liebe, durchgängig!" hatte Rolf mit dem Ausdruck tiefster Genugtuung wiederholt. Aber das lag lange zurück und hatte für Anna keine Bedeutung mehr.
Gerne würde sie zusammen mit den Teilnehmern ihres Seminars ins Theater gehen, um der Geschichte unter den veränderten allgemeinen wie auch persönlichen Bedingungen erneut zu begegnen. Doch in der näheren Umgebung wurde das Stück von keinem Theater gespielt.
Am Ende hatte sie die Seminarzeit um fast eine halbe Stunde überzogen. Lediglich zwei Teilnehmer waren zum regulären Zeitpunkt gegangen, auch sie offensichtlich nicht aus fehlendem Interesse, sondern aus Zeitmangel. Jedenfalls hatten sie beim Verlassen des Raums mit einem Blick auf ihre Uhren bedauernd die Schultern gehoben.

Aus der Titelei des Bandes:
Die erzählte Geschichte spielt am Beginn des neuen Jahrhunderts in einer mittelgroßen Stadt im Süden Berlins. In ihrem Zentrum steht eine Frau, die nach mehr als zwei Jahrzehnten aus ihrer Ehe ausbricht und einen Neubeginn versucht. Das Geschehen hebt sehr persönlich an, doch Schritt für Schritt treten auch seine sozialen Aspekte zutage. Im letzten Drittel spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu. - Die Geschichte kann Leser hier wie dort ansprechen. Erfahrungen, die einzelne Figuren sammeln, sind mal mehr, mal weniger von ihrer Sozialisation in Ost oder West geprägt.

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